RADICAL PLAYGROUND
Wir wollen in Beziehung zur ganzen Welt stehen und Risiken eingehen, indem wir die Kontrolle über die Reaktionen, die unsere Aktionen hervorrufen, völlig verlieren.
Radical Playground: Ist das eure Definition von Kunst im urbanen Raum? Ein radikaler Ansatz zur Rückgewinnung des öffentlichen Raums?
Auf jeden Fall. Ein radikaler Ansatz, der darin besteht, sich im privatisierten Gemeinschaftsraum, der seltsamerweise den Namen „öffentlicher Raum“ trägt, frei auszudrücken. Ein Ansatz diesen öffentlichen Raum als Spielplatz („Playground“) zu betrachten, mit der Radikalität von Kindern, die die soziale Realität mit ihren Spielen und ihrer grenzenlosen Vorstellungskraft konfrontieren.
Ihr nennt euch „ein Kollektiv von Kindern“. Könnt ihr uns mehr darüber erzählen, wer ihr seid und was hinter dem Kollektiv steckt?
Offensichtlich verwenden wir den Begriff „Kinder“ im weiteren Sinne. Ein Kind zu sein ist wichtig in einer freien künstlerischen Praxis, wie auch in der Art, wie wir die Welt betrachten.
Es gibt jedoch auch echte Kinder im Kollektiv, das sich mit jeder Session, die wir durchführen, weiterentwickelt: Mehrere Erwachsene, Jugendliche und Kinder nahmen an verschiedenen Momenten des kreativen Prozesses teil – beim Erstellen der Bilder sowie beim Anbringen an die Wände der Stadt.
Warum habt ihr euch für Urban Art entschieden? War es die Freude am Kunstschaffen oder die Notwendigkeit, eine Botschaft in der Öffentlichkeit zu verbreiten?
Beides. Wir machen Kunst, weil es uns Freude macht und weil sie anderen Freude bereitet. Wir machen Kunst, um Dialoge zu schaffen und die Welt zu konfrontieren. Wir haben uns speziell für urbane Kunst entschieden, weil wir dort mehr Freiheit und Spontanität finden. Und, weil wir den privaten Kunstorten entfliehen wollen, wo man oftmals nur ein etabliertes Publikum antrifft. Wir wollen in Beziehung zur ganzen Welt stehen und Risiken eingehen, indem wir die Kontrolle über die Reaktionen, die unsere Aktionen hervorrufen, völlig verlieren.
Was sind eure Inspirationsquellen? Gibt es andere (Street-) Artists, die euch beeinflussen?
Alles inspiriert uns. Historische Künstler wie auch aktuelle Street Artists. Wir lassen uns vor allem von der Avantgarde und von Künstlern inspirieren, die die Kunstwelt wie auch die Allgemeinheit provozieren und konfrontieren. Besonders gefallen uns urbane Interventionen und wir empfehlen jedem, der interessiert ist, das unglaublich gute Buch Urban Interventions – persönliche Projekte im öffentlichen Raum von Gestalten.
Bedeutet urbane Kunst für euch, unabhängig und nur im öffentlichen Raum zu agieren, oder könnt ihr euch vorstellen, eines Tages eure Werke in einem Kunstraum wie einer Galerie oder einer Institution auszustellen?
Jede Situation ist eine Gelegenheit zum Experimentieren und Spielen. Wir sind es gewohnt, jeden Kontext anzupassen und auszunutzen. Wenn wir in einen geweihten weißen Raum eingeladen werden, neigen wir natürlich dazu, ihn auf die Probe zu stellen und zu vergleichen. Indem wir zwischen dem Raum draußen und dem Innenraum spielen, oder einen Weg finden, ein anderes Publikum zu gewinnen. In jedem Fall beschränken wir uns nicht auf den traditionellen Ausstellungsraum, begrüßen neue Vorschläge und versuchen jedes Mal, eine interaktive, spielerische und subversive Situation zu schaffen.
Leider scheint unsere „Radikalität“ eine Barriere für Galerien und Institutionen zu sein: Bisher hat uns noch niemand kontaktiert. Letztlich wird das Kunstschaffen ohne Einschränkungen und ohne Vermittler im öffentlichen Raum für uns die Grundlage all unserer Praxis bleiben.
Eure Kunst setzt sich auf humorvolle und oft provokante Weise mit den Themen der heutigen Gesellschaft und ihren Dysfunktionen auseinander. Welche Gedanken, Reaktionen oder Interaktionen wollt ihr bei den Betrachtern eurer Kunst erzeugen?
Wir versuchen, die Menschen mit den Funktionsstörungen unserer Gesellschaft zu konfrontieren. In dieser Konfrontation können die Reaktionen sehr heftig ausfallen. Zwischen demjenigen, der unsere Arbeit gewaltsam zerreißt, und demjenigen, der sie anbetet – sie fotografiert und in sozialen Netzwerken verbreitet – liegt nur ein schmaler Grat. In jedem Fall ist er ein wichtiger Teil unserer Arbeit, und wir nehmen alle Reaktionen mit großem Interesse entgegen. Wir sind der Meinung, dass die Reaktion eines Menschen auch viel über ihn selbst und seine Meinung aussagt. Wir sehen diese Erfahrung (auch wenn es sich um eine Zensurerfahrung handelt…) als etwas Prägendes, das im Zentrum unserer Vision von Kunst steht.
Wenn ihr eine Sache in der heutigen Gesellschaft ändern könntet, welches wäre es?
Wir würden absolut alles ändern. Wir sind davon überzeugt, dass alles dringend umgeschrieben werden muss und, dass die Art und Weise, wie wir unser Leben auf der Erde teilen, völlig neu definiert werden müsste.
Euer Stil wird durch eine Reihe von Zeichnungen und Collagen definiert, die ihr an die Wände italienischer Städte und im Ausland klebt. Wie sieht euer Prozess der Zusammenarbeit aus?
Wir drucken alles. Wir machen keine Unikate, aber jeder Druck wird von Hand geschnitten und gefärbt (wie die 3D-Brille, die eine Art Signatur für uns darstellt …). Die Designs stammen alle von Antoine Caramalli. Wir kommen oft nach Italien, weil ein Teil des Kollektivs italienische Wurzeln hat und es daher für uns einfacher ist, hier zu Gast zu sein. Wir gehen überall hin, wohin man uns einlädt, weil der Kostenfaktor bei einem Projekt, das nicht lukrativ ist, wichtig ist – wie es in der urbanen Kunst oft der Fall ist.
Was sind Ihre Zukunftspläne, Vorhaben und Träume?
Im Moment versuchen wir erstmal diese Covid-Krise zu überstehen, die für Künstler sehr schlimm ist. Wir machen oft andere Jobs, um Geld zu verdienen und die Miete bezahlen zu können. Aber mit ein bisschen Glück findet ihr uns im nächsten Frühjahr mit vielen neuen Zeichnungen auf der Straße…
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Radical Playground Collective
Brussels, Belgium
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Oktober 2020