MARCO RÈA
Interview mit dem römischen Maler und Urban Artist Marco Rèa:
Kunst macht eine Gesellschaft reifer und sensibler. Ich stelle mir einen gewöhnlichen Menschen vor, der beim Spazierengehen von einem Werk an einer Wand völlig hingerissen ist. Vielleicht begreift er die Bedeutung nicht ganz, aber er ist erschüttert, ergriffen, fasziniert…
Du nennst dich selbst einen „Künstler aus einer anderen Welt“. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wer du bist, woher du kommst und was du machst?
Mein Name ist Marco Rèa, ich bin ein Künstler und komme von einem Planeten in einem kleinen Sonnensystem, Lichtjahre von der Erde entfernt… 😉
Eigentlich nenne ich mich so, weil ich immer ein bisschen in meiner eigenen Welt bin, mit meinem Kopf in den Wolken. Aber auch, weil ich nicht daran interessiert bin, der Masse zu folgen, sowohl im Allgemeinen als auch vor allem in künstlerischer Hinsicht. Ich erwecke meine eigenen Dinge zum Leben, folge einer persönlichen Recherche, meinen Inspirationen und erschaffe Dinge, die aus der Tiefe kommen, aus meiner Welt.
Was ist deine Meinung zu (urbaner) Kunst? Wie sehr beeinflusst deine Kunst dein tägliches Leben?
Es mag wie eine offensichtliche Antwort erscheinen, aber Kunst IST mein tägliches Leben. Fast jeden Tag gehe ich in mein Atelier, und selbst wenn ich nicht hingehe, ist mein Geist immer auf die Kunst fokussiert.
Es ist eine grundlegende Präsenz in meinem Leben, sowohl in den guten als auch in den schlechten Zeiten.
Ich komme aus der Graffiti-Welt und habe Street Art schon immer verfolgt. Meine Meinung zu Urban Art kann nur positiv sein, und ich bin überzeugt, dass sie unverzichtbar ist. Auch wenn ich sehr kritisch bin und persönlich einen kleinen Teil davon schätze, finde ich es schön, dass sich jeder so ausdrückt, wie er es für richtig hält. Das ist das Schöne daran, dass es jeder machen kann.
Hast du eine formale Kunstausbildung?
Ja, seit ich ein Kind war, habe ich das Zeichnen und die Kreativität immer geliebt. Für mich war es nach der Mittelschule fast klar, einen künstlerischen Weg einzuschlagen. Ich habe die Kunstschule absolviert und die SRF (Scuola Romana di Fumetti) abgeschlossen und dann mein Studium der Kunstgeschichte mit einer Arbeit über die „Illegalität in der zeitgenössischen Kunst“ abgeschlossen. Zusätzlich zu einer formalen Kunstausbildung habe ich auch eine „informelle“, und zwar habe ich von 1996 bis 2006 Graffiti gemacht. Und all das hat dazu beigetragen, das zu formen, was ich heute mache.
Du bist international als Mitglied der italienischen Lowbrow Art Szene bekannt und hast mit der Praxis der Appropriation Art experimentiert, bei der du mit Sprayfarbe auf der Basis von Werbe- und Modefotos gearbeitet hast. In deinen letzten Arbeiten hast du dich dem Line Art Stil genähert. Kannst du uns etwas mehr über deine künstlerische Entwicklung und Arbeitsweise erzählen?
Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich, nachdem ich viele Jahre lang Graffiti gemacht hatte, 2005 angefangen, meine Arbeiten in Galerien auszustellen, zuerst in Italien und bald darauf in Europa bis hin zu Amerika und Japan.
Zur Erschaffung dieser besonderen Technik „Spray on Billboards“ kam ich nach einer langen, auch anstrengenden Reise, die mich aber mit großer Zufriedenheit belohnt hat.
Nach 15 Jahren hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich alles gegeben hatte, was ich wollte, und auch auf die Gefahr hin, alles zu verlieren, spürte ich das Bedürfnis und die Kohärenz, mich zu verändern und mit anderen Bereichen zu experimentieren, andere Forschungen zu betreiben. Ich gab die Verwendung von Farbflecken auf und widmete mich der Verwendung von Schablonen. So entstand eine Serie von weiblichen Porträts, die aus einem Gewirr von Linien geformt sind, ein Kampf zwischen Chaos und Ordnung.
Aber ich denke, dass der Sinn für Eleganz und Komposition der vorherigen Werke gleich geblieben ist. Auch die Inspiration für die Sujets kommt immer aus der Modewelt, die verzerrt wird und dann in meinen Arbeiten ein neues Leben bekommt. Ich kann sagen, dass diese Arbeiten im Grunde die andere Seite der gleichen Medaille sind.
Du bist auch ein Mitarbeiter von SHOWstudio, einer Website, die sich mit Modekommunikation beschäftigt. Worum geht es in diesem Bereich deiner Arbeit?
SHOWstudio ist viel mehr als eine Website, es ist eine Art Fabrik, die von Nick Knight (einem der berühmtesten Fotografen der Welt) gegründet wurde und in einer wunderschönen Kunstgalerie im Herzen Londons, in einer entweihten Kirche, ihren Sitz hat. SHOWstudio ist auch ein kreatives Team, das einige der weltweit wichtigsten Namen an Künstlern, Fotografen, Modeillustratoren, Make-up-Künstlern usw. umfasst… Sogar Lady Gaga ist Teil davon.
Ich habe mehrere Ausstellungen mit ihnen gemacht, sowohl in London als auch in Tokio, und ich habe Illustrationen für die Paris Fashion Week gemacht. Ich habe auch schon mit Kate Moss, der Schauspielerin Chloe Sevigny etc. zusammengearbeitet. Es ist eine echte Ehre für mich, ein Teil davon zu sein.
Wie und wann bist du mit Street Art in Berührung gekommen? Was sind deine Inspirationsquellen und was treibt dich in erster Linie an, Kunst im urbanen Raum zu kreieren?
Ich war schon immer in Kontakt mit Street Art. Ich habe gesehen, wie sie in Rom geboren wurde, und ich hatte schon immer Freunde, die Writer und Street Artists waren. Jahrelang bin ich mit meinen Arbeiten auf parallelen Spuren zu dieser Welt gereist, ohne jemals ganz Teil davon zu sein.
Nur dieses Jahr, während des ersten Lockdowns, änderte sich etwas für mich. Ich war gezwungen, zu Hause zu bleiben, und die Kunst hat mir in diesem Moment sehr geholfen. Am Ende des Lockdowns, als ich endlich wieder frei war, fühlte ich mich gezwungen, auch meine Kunst freizulassen und sie mit auf die Straße zu nehmen. Ich kann also sagen, dass der Hauptgrund wirklich der Wunsch nach Freiheit und Teilen war.
Meine Inspirationsquellen sind vielfältig und reichen von Kunst bis Kino, von Literatur bis Musik. Was Street Art angeht, sind die Künstler, die ich immer bewundert habe, Sten & Lex, Lucamaleonte, 108 Nero, Martina Merlini, MP5, und Borondo.
Kann Street Art Themen innerhalb eines Landes beeinflussen? Glaubst du, dass sie die Gesellschaft beeinflussen oder verändern kann?
Absolut ja, und ich glaube, dass sie dies durch Kultur und Schönheit (nicht die banale Schönheit der Werbung) tun kann, die Menschen näher bringt und sie für Kunst sensibilisiert.
Kunst macht eine Gesellschaft reifer und sensibler. Ich stelle mir einen gewöhnlichen Menschen vor, der beim Spazierengehen von einem Werk an einer Wand völlig hingerissen ist. Vielleicht begreift er die Bedeutung nicht ganz, aber er ist erschüttert, ergriffen, fasziniert und versteht, dass es in der Welt nicht nur Arbeit, Rom und Lazio (Fußball) gibt, sondern auch dieses Ding dort, welches schwer zu definieren ist, aber Emotionen vermitteln kann. In diesem Moment hat jeder etwas gewonnen. Der Betrachter, der Künstler und die Gesellschaft.
Gibt es Unterschiede zwischen der Kunst, die du auf der Straße und für die Öffentlichkeit machst, und den Arbeiten im Atelier oder für Galerieausstellungen in Bezug auf Techniken, Themen sowie Motivation und Inspiration?
Ich denke, für den Künstler ist es nicht wichtig, jedem und um jeden Preis zu gefallen, sondern sich selbst und seine eigene Arbeitsweise zu respektieren.
Trotzdem musst du dich auch um diejenigen kümmern, die jeden Tag an dieser Straße vorbeikommen und mit deiner Arbeit leben müssen. Aus diesem Grund versuche ich, wenn ich auf der Straße arbeite, Werke zu schaffen, die zarter sind und weniger stören. Im Atelier hingegen weiß ich, dass ich experimentieren kann. Ich kann mich zu stärkeren oder spezielleren Arbeiten drängen, weil ich weiß, dass das Galeriepublikum eher an eine bestimmte ästhetische Sprache gewöhnt ist.
Aber für mich sind in diesem Moment beide unverzichtbar, und die Arbeit, die ich mache, bleibt in beiden Fällen mir und meiner Recherche treu.
Du bist in Rom geboren und lebst und arbeitest immer noch dort. Wie würdest du das aktuelle Klima in der römischen Urban Art Szene beschreiben?
Ja, ich bin in Rom geboren und habe immer hier gelebt, auch wenn ich seit ein paar Jahren zwischen Rom und Cagliari hin und her pendel.
In Rom spüre ich ein langsames, aber starkes Gefühl der Wiedergeburt, es gibt ein gesundes Verlangen zu tun, zu kreieren. Es mag auch an diesem absurden Jahr liegen, das wir hinter uns haben, aber ich habe das Gefühl, dass wir vielleicht eine neue Renaissance erleben. Künstler haben den Wunsch und das Bedürfnis, sich auszudrücken und auch vom Publikum spüre ich Nähe und Neugierde.
Es gibt einen großen Austausch.
Was steht für dich an? Hast du Ideen, Projekte oder Träume für die Zukunft?
In diesen Tagen ist ein schönes Buch von Valeria Arnaldi erschienen, Ultra-Editionen, mit dem Titel „Reaktion und Revolution, die Antwort der Kunst auf den Corona-Virus“. Darin befindet sich ein langes Interview, das ich mit der Autorin geführt habe, und es soll auch eine Dokumentation über meine Arbeit herauskommen, die von L & M productions geschnitten und produziert wurde.
Auch plane ich Ausstellungen und Murals, aber alles ist auf Stand-by… Ich schwöre, ich kann es kaum erwarten, wieder anzufangen.
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Bilder © Marco Rèa, Luca Lionetti & L&M produzioni
März 2021
by Laura Vetter